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KN: Dagurs letzte Mission

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KN: Dagurs letzte Mission

Rouen. Es ist die letzte Mission von Bundestrainer Dagur Sigurdsson mit der deutschen Handball-Nationalmannschaft. Der 43-jährige Isländer avancierte zum Wunderheiler des deutschen Handballs, weckte das Team aus seinem Dornröschenschlaf, holte EM-Gold und Olympia-Bronze und das auch noch in einem Jahr. Was noch viel wichtiger ist: Der Unnahbare ließ immer wieder auftretende Personalsorgen kühl an sich abprallen, kalkulierte, taktierte, analysierte anstatt zu lamentieren. Plan B ist Sigurdssons zweiter Vorname, und dennoch schufen Verletzungspech und Rücktritte auch vor dem Auftakt in die WM gegen Ungarn am Freitag (17.45 Uhr) so manche Baustelle.

Handball-WM: Bundestrainer Sigurdsson startet am Freitag mit viel Weltklasse und so mancher Baustelle ins Turnier

Torhüter Wohltuend: Deutschland ist und bleibt eine Torhüter-Nation, und Sigurdsson hat die Qual der Wahl. Setzte er noch bei der EM auf Andreas Wolff und Carsten Lichtlein, rückt für den Gummersbacher jetzt der zuvor ausgebootete Berliner Silvio Heinevetter wieder in den Kader. Zebra Wolff, dieser "Schlag den Star"-Pfundskerl, will den Titel und hat bei der EM gezeigt, wie es geht. Heinevetter ist die klare Nummer zwei, aber in guter Form. Ein Weltklasse-Duo. Linksaußen Der Schock saß in dieser Woche tief: Am Sonntag war der Vater von Kapitän Uwe Gensheimer überraschend gestorben, der 30-Jährige sofort zu seiner Familie in Mannheim gereist. Sein Einsatz: zumindest fraglich. Aber der junge Kieler Rune Dahmke (23) hat sich zuletzt in bestechender Form gezeigt, erfüllt sich nach dem emotionalen Rückschlag durch die Nichtnominierung für Olympia den Traum vom WM-Debüt. Nach dem EM-Triumph war Dahmke abgetaucht, musste die Lust am Handball wiederfinden. Jetzt fehlt nur noch - das hat die Generalprobe gegen Österreich gezeigt - das letzte Quäntchen Selbstvertrauen. Ohne Dahmke wäre Deutschland bei der EM gegen Norwegen ausgeschieden. Er hat den großen Gensheimer schon einmal (fast) vergessen gemacht. Rückraum links Zebra Christian Dissinger ist verletzt, aber der linke Rückraum schwappt über vor Kraft. Als die "Bad Boys" Europameister wurden, fehlte der Berliner Paul Drux verletzt. Wird die WM das Turnier des ewigen Hoffnungsträgers? Gummersbach-Granate Julius Kühn soll für die leichten Tore sorgen. Oder schlägt doch die Stunde von Steffen Fäth? In Berlin fremdelte der 26-Jährige von Beginn an, wechselt 2018 zu den Rhein-Neckar Löwen. Seine Spielweise kann atemberaubend sein. Rückraum Mitte Apropos Fäth: Gefühlt ist der Wahl-Berliner die Nummer eins auf der Position des Spielmachers - wuchtig, kraftstrotzend, immer mit Zug zum Tor. Wäre da nicht noch Simon Ernst. Der Gummersbacher habe sich "enorm weiterentwickel", sagt der Bundestrainer. Der 23-Jährige ist ein Mega-Talent, hat sich vom mageren Schlacks zur körperlichen Präsenz gemausert, zeigte gegen Österreich, was er drauf hat. Er, der bei der EM im Halbfinale jubelnd zu früh aufs Feld stürmte, fast den Finaleinzug versaubeutelte. Kann auch Abwehr spielen, weswegen Niclas Pieczkowski aller Voraussicht nach nur die Rolle des WM-Touristen bleibt. Rückraum rechts Steffen Weinhold fehlt. Punkt. Der verletzte Kieler ist in Deutschland momentan nahezu konkurrenzlos auf dieser Position, was nicht heißen soll, dass Kai Häfner keinen guten Job macht. Der Hannoveraner EM-Nachrücker (und -Teufelskerl) ist nominell bis dato der einzige Rückraum-Linkshänder im 15-köpfigen Aufgebot. Völlig klar also: Am Ende der Vorrunde oder spätestens zum Achtelfinale wird Holger Glandorf, Weltmeister von 2007, das Team verstärken. Für ein ganzes Turnier reicht es physisch nicht mehr, aber Glandorf hat noch immer Klasse und könnte am Ende das entscheidende Puzzleteil auf dem Weg zum Titel sein. Rechtsaußen Mr. Europameisterschaft, Mr. Champions League, Mr. Zuverlässig: Deutschland hat Tobias Reichmann, und das ist auch gut so. Kurios, dass ein Spieler wie Löwe Patrick Groetzki als klare Nummer zwei fast schon verblasst. Gut, dass er da ist, aber ganz im Ernst: Wenn das 28-jährige, ehemalige Kieler Flugwunder seine muskulären Probleme in den Griff bekommt, gibt es momentan nichts Besseres als den EM-All-Star und Champions-League-Sieger Reichmann. Kreisläufer Dagur Sigurdsson geht nur mit THW-Ass Patrick Wiencek und dem Wetzlarer Jannik Kohlbacher ins Turnier. Was Wiencek in dieser Saison beim THW Kiel leistet, ist nicht weniger als phänomenal. Ist er der beste Kieler der Hinrunde? Wahrscheinlich schon. Kohlbacher ist ein anderer Spielertyp. Könnte sich gut ergänzen, auch im Hinblick auf Varianten mit einem siebten Feldspieler. Abwehr Noch mehr als am Kreis wird der pausierende Hendrik Pekeler von den Rhein-Neckar Löwen in der Defensive vermisst. "Peke" bildete zuletzt ein bestechend gutes Gespann mit Finn Lemke im Abwehr-Innenblock, war zudem der Mann für die Drecksarbeit an der Spitze einer 5:1-Deckung. Aber: Wiencek und Lemke haben das Zeug zum besten Block des Turniers, harmonieren wunderbar mit Andreas Wolff im Tor. Wiencek und Wolff kennen sich aus Kiel - das passt! Und Julius Kühn eröffnet dem Bundestrainer weitere Optionen. Deutschland wird seine Spiele über die Abwehr gewinnen. Der Trainer Wie Dagur Sigurdsson vor und während der EM auf Ungeahntes und Problematisches reagierte - das hatte Art. Der Isländer vertraut zudem seinen Co-Trainern Axel Kromer und Alexander Haase blind. Dieses Trio hatte mit seinen Einfällen und Reaktionen auf die taktischen Überraschungen der Gegner einen Riesen-Anteil an EM-Gold. Sigurdsson, der oft so unnahbar ist, mit den Medien fremdelt, will diesen Titel, will sich unbedingt mit einem starken Turnier von der Mannschaft verabschieden. Er weiß: In Japan wird er so schnell nicht um Titel spielen. Vielleicht nie. Das kann hemmen. Oder beflügeln. (Von Tamo Schwarz, aus den Kieler Nachrichten vom 12.01.2017, Foto: Archiv/Sascha Klahn)